Eigentlich ist es schon fünf nach zwölf – Ein Gastbeitrag von Mona ElOmari

Wir befinden uns mitten in der „Woche gegen antimuslimischen Rassismus“, die aufgrund des rassistischen Mordes an Marwa El-Sherbini ins Leben gerufen wurde. Ich sitze am Schreibtisch und ehrlich gesagt fällt es mir nicht leicht, diesen Text zu schreiben, denn: erst im Tod werden wir gesehen.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags werden die rassistischen Morde an George Floyd, Breonna Taylor, Tony McDade und Ahmaud Arbery in den USA Wochen, teils Monate her sein. Die rassistischen Morde in Hanau werden fast fünf Monate her sein. Der antisemitische und rassistische Anschlag in Halle neun Monate. Im Juni jährten sich auch die rassistischen Morde an Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides, vier der neun bekannten NSU-Mordopfer.

Rooble Warsame starb 2019 im Schweinfurter Polizeigewahrsam. Amad Ahmad verbrannte im September 2018 in einer Zelle der JVA Kleve. Oury Jalloh verbrannte im Januar 2005 in einer Zelle eines Polizeireviers in Dessau. Christy Schwundeck wurde 2011 in einem Frankfurter Jobcenter von einer Polizistin erschossen. An den Außenrändern der EU lassen Deutschland und die anderen Mitgliedsstaaten nach wie vor Menschen sterben.

Erst im Tod werden wir gesehen. Und manchmal selbst dann nicht. Die Mörder von Oury Jalloh sind nach wie vor frei. Genauso die Verantwortlichen im Fall Amad Ahmads. Im Fall von Hanau feierte man im Bundestag – statt zur nahegelegenen Mahnwache zu gehen und dort ein Minimum an Anteilnahme und menschlichem Anstand zu beweisen - ausgelassen Karneval. 

Marwa wurde in einem Dresdener Gerichtssaal von eben dem Mann ermordet, den sie zuvor wegen rassistischer Äußerungen angezeigt hatte. Statt nach der Bluttat den Täter zu überwältigen, schoss ein Polizeibeamter Marwas Ehemann an. Es dauerte neun Tage, bis sich die deutsche Regierung, unter anderem aufgrund öffentlicher Proteste in Ägypten - dem Herkunftsland Marwa El-Sherbinis - überhaupt zu einem Statement überwand. Wir leben in Deutschland in verschiedenen Welten. Und das hat Geschichte und Struktur.

„Wir leben in verschiedenen Welten“ ist ein Satz, dem ich so oder anders formuliert auch immer wieder in meiner Arbeit als Empowerment-Trainerin und als Beraterin begegne. „Wir leben in verschiedenen Welten“ - eine Erkenntnis, zu der nicht nur muslimische Menschen in Deutschland mit Bezug zum weißen Gegenüber gelangen; Schwarze Menschen, Menschen of Color und jüdische Menschen in Deutschland leben mit demselben Wissen.

Es gibt noch eine Ansicht, die von vielen rassismuserfahrenen Menschen geteilt wurde und wird, die ich im Rahmen meiner Arbeit kennenlernen und begleiten durfte: wir sind es überdrüssig, immer wieder mit der Erwartung konfrontiert zu werden, die Existenz von Rassismus mit all seinen unterschiedlichen Formen und Gesichtern in Deutschland „beweisen“ zu müssen. Wir sind es leid, weißen Mitmenschen scheinbar nur dann ein Quentchen an Empathie entlocken zu können, wenn wir unseren Schmerz in einer Art „Rassismus-Porno“ immer und immer wieder performen.

Das Sich-Mitteilen und Teilen schmerzvoller und traumatischer rassistischer Erfahrungen kann hingegen in Empowerment-Räumen und safer Beratungssituationen Erleichterung bringen und das Gefühl der eigenen Handlungsfähigkeit vergrößern: „Mir wird geglaubt. Ich bin nicht allein. Meine Erfahrungen werden besprechbar. Ich finde Worte für das, was geschieht. Ich kann mich mit anderen organisieren und Solidarität erfahren“. Und das ist nur ein Grund, warum es noch viel mehr dieser Räume, nicht nur, aber auch für muslimische Menschen bedarf.

Rassismus ist als gewaltförmige Struktur hochgradig flexibel, adaptiv, geübt darin, sich selbst unsichtbar zu machen, ent-nannt zu werden und nur darauf aus, reproduziert zu werden. Wann immer rassismuserfahrene Communities oder Einzelpersonen Rassismus gesamtgesellschaftlich zu besprechen versuchen, stoßen sie auf entsprechend flexible und wie auf ihre Communities „zugeschnittene“ Abwehrmechanismen, mit denen die weiße Mehrheitsgesellschaft versucht, das kollektive Selbstbild als „aufgeklärt“, „rational“, „demokratisch“ und „nicht rassistisch, auf gar keinen Fall rassistisch!“ zu schützen. Deutschland ist entnazifiziert, hat aus seinen Fehlern gelernt, war ohnehin nicht lange Kolonialmacht mit ohnehin nur wenigen Kolonien, Rassismus gegen Sinte*zze- und Rom*nja-Communities wird erst gar nicht angerührt und die Muslim*innen? Unter dem Deckmäntelchen der „Islamkritik“ kann in „aufklärerischer“ Orientalismus-Manier jeder noch so rassistische Diskurs geführt, jedes noch so rassistische Buch veröffentlicht und an die Bestseller-#1 gehyped werden, es können unironisch „Demokratie und Respekt von Deutschen lernen“-Flyer an geflüchtete Muslim*innen verteilt werden, während gleichzeitig im Bundestag über „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“ schwadroniert wird, ohne an diesem Selbstbild des geläuterten Deutschen zu rütteln. Vielmehr, so erklärt man uns, sei „der Islam“ ja gar keine R***e, also gibt es auch keinen antimuslimischen Rassismus zwinki zwonk.  

Und in dem Moment, in dem wir eine Abwehrstrategie benannt, ein Psdeudoargument des Rassismus widerlegt haben, wird eine neue Messlatte angelegt, eine neue Forderung formuliert; Messlatten und Forderungen, die – das wird geflissentlich übersehen – die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland bisher auch nur auf dem Papier, im Wortlaut von Gesetzen erfüllt.

 

Gesetze. Am 04. Juni dieses Jahres wurde in Berlin das von verschiedenen Selbstorganisationen rassismus- und sonst diskriminierungserfahrener Gruppen lang und zäh erstrittene Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) verabschiedet. Auf der Grundlage dieses Gesetzes soll es nun möglich sein, gegen diskriminierendes Handeln von staatlicher Seite klagen zu können.

Dieses Gesetz verkompliziert vormals so einfach scheinende Umstände. Berlin hat sich damit nämlich auch selbst ein Gesetz gegeben, welches das Bundesland und seine Gerichte eigentlich dazu zwingen müsste, diverse Gerichtsurteile in Fällen behördlicher Diskriminierung und gegendertem antimuslimischen Rassismus gegenüber muslimischen Hijabtragenden Frauen[1] neu zu betrachten. Zuletzt war diesen Frauen nämlich das Recht auf Berufsausübung als z.B. Lehrerinnen, Richterinnen oder Staatsanwältinnen verwehrt worden mit der Begründung, sie würden das Neutralitätsgebot Berliner Behörden nicht erfüllen können. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, warum diese Begründung und mit ihr die zugrundeliegenden Annahmen über Hijabtragende muslimische Frauen rassistisch und sexistisch sind; das wurde an anderen Stellen bereits mehrfach getan. Ich möchte an dieser Stelle lediglich eine Forderung formulieren: hebt diese rassistischen und sexistischen Gerichtsurteile und die de-facto Berufsverbote für Hijabtragende muslimische Frauen auf!

Welches Rechtsgut wiegt schwerer? Die – wie ich finde falsch verstandene – Neutralitätsanforderung oder der Schutz vor Diskriminierung sowie das Recht auf Gleichberechtigung und Teilhabe?

In Zeiten, in denen ein bestimmter Nachname dafür sorgen kann, dass man beim kleinsten Kontakt mit der Polizei in die Kartei „Klan-Kriminalität“ (selbst eine rassistische Kategorie) eingetragen wird, in denen nicht vergessen werden sollte, dass auch hier Menschen in Polizeigewahrsam, durch rassistische Polizeigewalt sterben, in denen es Berufsverbote für Hijabtragende muslimische Frauen gibt, ist es umso wichtiger, Rechtsmittel in der Hand zu haben.

Im Kontext der bevorstehenden Verabschiedung des Gesetzes und auch darüber hinaus wurde und wird beklagt, dass sich im LADG ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Polizei und anderen Behörden expliziere. Jedoch wird an keiner Stelle diese naiv-beleidigte Haltung aufgegeben für eine ernsthafte und demütige Reflektion der Selbstenttarnung des NSU und dem Aufdecken der teils willentlichen Vereitelung polizeilicher Ermittlungen durch deutsche Behörden, der „ungeklärten Todesfälle“ in deutschen Gefängniszellen, der Berufsverbote.

Aus Gründen der traurigen Notwendigkeit sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei Diskussionen um Benennung von und Schutz vor rassistischer und anderer Diskriminierung grundlegend um Diskussionen über Menschenrechte handelt. Das Recht, nicht diskriminiert zu werden, nicht in der eigenen Würde verletzt zu werden, das Recht auf Leben. Und wenn diese Rechte, die uns allen versprochen wurden, in 2020 nicht eingehalten werden, dann müssen die Gesetze eben verschärft werden, Institutionen müssen verändert - und wo das nicht möglich ist, eben abgeschafft - werden, Strukturen müssen verändert werden. Wie das geschehen kann und soll ist eine Unterhaltung, eine Aushandlung, die viele Einzelpersonen und Selbstorganisationen als Expert*innen für die eigene Sache seit langem führen. Es wird Zeit, dass diese Stimmen, diese Perspektiven nicht weiter ausgeschlossen bleiben.

Es bleibt abzuwarten, ob das Verabschieden von Gesetzen wie dem LADG dafür sorgen wird, dass endlich auch Behörden und deren Angestellte – unter Androhung und Durchsetzung von Konsequenzen – für diskriminierendes Handeln wirklich zur Verantwortung gezogen werden.

So möchte ich dann auch zur Woche gegen antimuslimischen Rassismus nicht mehr leere Worthülsen lesen oder schale Lippenbekenntnisse hören müssen, dass der Rassismus - dessen tatsächliches Vorhandensein in Deutschland immer noch zur Debatte zu stehen scheint – keinen Platz in Deutschland hat. Ich will konkrete Handlungen.

 

Vielen Dank an Mona ElOmari für den Beitrag anlässlich der Woche gegen antimuslimischen Rassismus

Mona ElOmari ist Diplom-Sozialpädagogin, Projektkoordinatorin, freie Empowerment-Trainerin, Künstlerin und derzeit in der Ausbildung zur systemischen Therapeutin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die psychosoziale Beratung von rassismuserfahrenen Menschen, die communitybasierte Erarbeitung von Möglichkeiten des kollektiven und individuellen Empowerments sowie Liberation Religiosity. Momentan vertieft sie sich in Healing Justice-Ansätze aus Schwarzen, GeHinderten communities. Sie lebt und arbeitet in Berlin.


[1]   Hier und im weiteren Text alle Personen, die sich als muslimische Frauen identifizieren