"Ich bin froh, dass die Mauer gefallen ist." Im Gespräch mit Max Czollek.

Mit seiner Arbeit fordert Max Czollek „die deutsche Erzählung" über sich selbst heraus. 2016 hat er zusammen mit Sasha Marianna Salzmann den Desintegrationskongress am Maxim Gorki Theater kuratiert. 2017 folgten die Radikalen Jüdischen Kulturtage. Jetzt legte Czollek pünktlich zum dreißigsten Jubiläum der Wiedervereinigung mit den bundesweiten „Tagen der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ nach – was er damit bezwecken will und warum es jetzt raus „Aus der Bubble in die Charts!“ geht - haben wir ihn gefragt.  

Der „harmonischen deutschen Einheit“ setzt du die „Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ (TdJML) entgegen – was hat es damit auf sich? 
Die Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten eine andere geworden. Da reichen Konzepte wie deutsche Leitkultur oder Integration nicht mehr aus. Zugleich existieren in Kunst und Zivilgesellschaft schon heute neue Entwürfe, die vom postmigrantischen Theater bis zu den NDO reichen. Diese neue Realität möchte die Idee der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur sichtbar machen.

Die digitale Auftakt-Veranstaltung zu den „Tagen der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ fand am 2. Oktober im Gorki statt. Motto: „Aus der Bubble in die Charts!“ – welchen Durchbruch hast du dabei vor Augen. (Und ist es wirklich schon so weit?)
Die Veranstaltung selber heißt „Das Beste Abendmahl“ und hatte zum Ziel die Vielstimmigkeit der an den TdJML beteiligten Akteur*innen gleich zu Beginn sichtbar zu machen. Es war  ein witziger, trauriger, chaotischer, wütender und nachdenklicher Abend. Golddöner trifft auf Knoblauchzehe, Ayran auf Arak, Torte auf Hamburger. Die Jüdisch-Muslimische Leitkultur ist nicht nur realer, sondern vor allem besser als die Deutsche. 

Am 03. Oktober starteten dann die TdJML am Maxim Gorki Theater. Die Veranstaltung nannte sich „3. Oktober. Tag der VerUnEinigung!“ – mit wem oder was bist du UnEinig?
Der Titel kommt von einer Ausgabe des Jalta-Magazins, die voriges Jahr anlässlich des dreißigjährigen Mauerfalljubiläums erschienen ist. In der Ausgabe wie auch bei der Veranstaltung werfen wir die Frage auf, welche Perspektiven aus der Erzählung der Wiedervereinigung ausgeschlossen bleiben. Diese afrodeutschen, queeren, jüdischen, vietnamesisch- und türkeistämmigen Perspektiven wollen wir auf diesem Panel zu Wort kommen lassen.

Dürfen wir uns Hoffnung auf Veränderung durch Kunst und Kultur machen?
Ja, ich denke, dass in Kunst und Zivilgesellschaft derzeit Modelle einer postmigrantischen, radikal vielfältigen Gesellschaft vorgedacht werden. Zentral ist, dass sich hier ein Paradigmenwechsel ankündigt: Weg von der Vorstellung, dass Vielfalt das grundlegende Problem einer Gesellschaft darstellt, sondern ihre Grundlage. Diesen Paradigmenwechsel bezeichne ich gemeinsam mit meinen Kolleg*innen im Institut für Social Justice und Radical Diversity als Wechsel von einem Integrationsparadigma zu einem Paradigma der „Radical Diversity“.

Verrätst du uns noch was für dich persönlich die deutsche Wiedervereinigung bedeutet?
Ich bin froh, dass die Mauer gefallen ist. Zugleich bin ich sehr unglücklich darüber, was aus dem Mauerfall gemacht wurde. Wir stehen erst am Beginn einer wirklichen Neuerzählung dieses Landes als plurale Demokratie. Und nicht mal am Beginn, sondern vielleicht gerade mal am Ende der alten Erzählung. Der Anfang ist nah. 

DANKE für das Gespräch, lieber Max!
(Das Interview führte Kate Dehn)