Qualifikationen Jugendlicher mit Migrationsgeschichte entstehen oft außerhalb der Schule

Geflüchtete und Kinder mit Migrationsgeschichte lernen in Schulen selten das, was wir am dringendsten brauchen. Wenn wir es uns dann selbst beibringen, wird das nicht anerkannt. Eine Schule für alle würde diese Fähigkeiten anerkennen.

Als ich noch Schüler war, musste auch mit meiner Eltern immer wieder mitgehen: zur Ausländerbehörde, zum Bürgeramt, zum Arzt. Meinen Vater begleitete ich zum Arzt, weil er selbst nicht gut Deutsch sprechen kann. Das fühlt sich für mich komisch an, wenn ich auf einmal denjenigen zum Arzt brachte, der mich immer begleitet hat. Dabei und bei vielen weiteren Behördengänge war ich Übersetzer – als Schüler. Diese ganzen Fachbegriffe, die man dadurch lernt, und die Erfahrung, die man dabei sammelt, wird in der Schule nicht anerkannt. Sie sind dadurch aber nicht weniger wert.

Das deutsche Schulsystem bringt viele Sachen nicht bei, die notwendig für das Leben sind. Es geht nur darum, auswendig zu lernen. Manchmal ist es egal, ob man das Thema verstanden hat oder nicht, wichtig ist nur, dass man hat das drauf hat und eine gute Note schreibt. Kinder werden so dazu gebracht, irgendein Wissen in ihr Gehirn reinzustopfen, was ihnen später im Leben oft wenig bringt.

 

Vieles müssen wir uns selbst beibringen

 

Warum lernen wir in der Schule nicht öfter Dinge, die für das Leben wichtig sind? Warum bringt die Schule nicht bei, wie man mit Emotionalität, mit Freunde, mit Liebeskummer umgeht? “Wie gehe ich mit Menschen um” ist eine wichtigere Lektion als auswendig gelerntes Wissen. Und auch praktisches Wissen wird wenig gelehrt.

Gerade Geflüchtete und Kinder mit Migrationsgeschichte bringen sich diese Fähigkeiten oft selbst bei. Sie brauchen oft weniger Textanalysen und mehr Wissen um Bürokratendeutsch. Statt Gedichtanalyse betreiben sie regelmäßig Inhaltsanalyse komplexer rechtlicher Texte und Formulare. Fähigkeiten, die von der Schule aber nicht anerkannt werden.

 

Fähigkeiten nicht nur loben, sondern zertifizieren

 

Ein Lob reicht uns dafür nicht aus. Solche Sachen sollten zertifiziert werden. Geflüchteten und Kinder mit Migrationsgeschichte haben so viele wertvolle Erfahrungen gesammelt, die niemand wertschätzt. Ich stelle mir eine Schule vor, die sowas bewertet und dafür eine Note gibt. Und zwar nicht als reinen Schmuck: Solche Noten und Zertifizierungen sind wichtig, beispielsweise für Bewerbungsunterlagen. 

Eine Schule, die Bedürfnisse ihrer Schüler*innen nicht erfüllt, hat noch viele Hausaufgaben zu machen. Und bei Geflüchteten muss das System gleich nachsitzen, weil die besonderen Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Denn: Das, was die Geflüchteten durchmachen, muss kein Deutscher machen. Vor allem, wenn man die Sprache beherrscht, und keine Notwendigkeit hat, diese Behördengänge zu erleben. Dieser Unterschied ist kein Defizit, sondern eine Stärke, die gefördert werden muss.

 

 

Mohamad Anas Alekhwan aus Syrien, Anfang 2016 nach Deutschland gekommen. Er macht gerade eine Ausbildung als Kaufmann für Dialogmarketing, ist Schauspieler und engagiert sich gegen Rassismus, Antisemitismus, Kopftuchverbot, und viel weiteres.

 

Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Bildungsgipfels “Antidiskriminierung.Macht.Schule” den die ndo im März 2022 durchgeführt haben. Dieser Bestand aus einer Input-Veranstaltung zu Bildung & Rassismus, einer Diskussion mit Netzwerkmitgliedern über Erwartungen und Wünsche an ein gerechtes Bildungssystem und einem Gespräch mit Bildungsaktivist*innen. Aus den Forderungen dieser Veranstaltung entsteht zudem eine ndo Publikation.