Bildung, aber für wen? Plädoyer für eine realitätsnahe Schule

Das deutsche Schulsystem orientiert sich an einer imaginären Lebensrealität, in der Migrationsgeschichten als abweichende Ausnahmefälle behandelt werden, obwohl diese Alltag sind. Ein Schulsystem, das die Lebensrealität von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte als abweichende Fälle behandelt, geht aber am Bedarf vorbei und erfüllt die Funktion von Bildung nicht.

„Ihre Tochter ist auf einer Förderschule für lernbehinderte Kinder besser aufgehoben“- sagte meine damalige Grundschullehrerin zu meinem Vater. 1998 waren meine Familie und ich vor dem Kosovokrieg nach Deutschland geflüchtet und mussten uns in ein bis dahin fremdes Land zurechtfinden. Nachdem meine Lehrerin kurz nach unserer Flucht noch verständnisvoll war, nahm dieses Verständnis schnell wieder ab. Auch ohne das als 7-Jährige klar benennen und erfassen zu können, verstand ich mich fortan als Problem. Ich war die Überforderung. Meinetwegen kamen wir mit dem Unterricht langsamer voran und meinetwegen war die Lehrerin häufig frustriert. Mein Vater sprach selbst wenig deutsch und konnte das deutsche Schulsystem nicht hinterfragen, da es anders war als das aus seiner Heimat. Er nahm die Empfehlung der Lehrerin ernst und so besuchte ich nach der dritten Klasse für dreieinhalb Jahre die Förderschule. 

 

Wie viele Einzelfälle braucht es bis zum Regelfall?

 

Als Kind beobachtete ich wie nach und nach Schüler*innen mit “ausländisch” klingenden Namen wie meinem auf Förder- oder Hauptschulen geschickt wurden. Ich glaubte dennoch, ich sei ein Einzelfall. Nur lernte ich im Laufe meines Lebens immer mehr sogenannter Einzelfälle kennen und verstand, dass nicht Kinder und Jugendliche wie ich das Problem waren, sondern dass es ein strukturelles Problem geben musste. Die PISA-Studie 2000 löste eine bildungspolitische Debatte aus und machte deutlich, dass in Deutschland der Bildungserfolg sehr stark von der sozialen Herkunft abhängt. Deutschland hat es jedoch bis dato nicht geschafft, die Koppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufzubrechen. Wie dieser Zusammenhang konkret ausschauen kann, zeigen Forscher*innen des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie der Universität Mannheim mit ihrer Studie „Max versus Murat“, in der angehende Lehrkräfte das Diktat eines Kindes mit “türkischem” Namen - trotz gleicher Anzahl an Fehlern - schlechter bewerteten als das eines Kindes mit “deutschen” Namen. 

Das deutsche Schulsystem orientiert sich hierbei an einer imaginären Realität, an Normalitätsvorstellungen, denen Kinder und Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft entsprechen, in denen aber Kinder mit Migrationsgeschichte ausgeklammert werden. Ein Bildungssystem, das diskriminierende Strukturen wie diese aufrechterhält und der Lebenswirklichkeit von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte im Unterricht keine Stimme gibt, handelt realitätsfern und kommt seinem Bildungsauftrag nicht nach. An den allgemeinbildenden sowie berufsbildenden Schulen haben mittlerweile ein Drittel der Schüler*innen einen sogenannten Migrationshintergrund. Zu der Lebensrealität von diesen Kindern und Jugendlichen zählen auch rassistische Diskriminierungserfahrungen sowohl in als auch außerhalb der Schule. Für betroffene Schüler*innen sind diese Erfahrungen belastend und schränken sie in ihrer Lebensqualität ein, da sie neben der Schule Bewältigungsstrategien entwickeln müssen, die es ihnen mehr oder weniger ermöglichen, mit rassistischen Erfahrungen umzugehen. 

 

Rassismus in und außerhalb der Schule gehört in den Lehrplan

 

Doch die Thematisierung von Rassismus auch außerhalb des Nationalsozialismus im Unterricht bleibt weiterhin dem Engagement sowie dem Interesse der einzelnen Lehrkraft überlassen, da es noch immer keinen Zugang in die deutschen Kerncurricula gefunden hat. Auch im Lehramtsstudium ist die Auseinandersetzung mit Rassismus nicht obligatorisch. Angehende Lehrkräfte werden nicht darin geschult, rassismuskritisch zu unterrichten. Sie werden nicht darin geschult, gezielt Schulmaterialien auszuwählen, die Vorurteile abbauen statt sie zu reproduzieren und sie werden auch nicht darin geschult, sich einer diskriminierungsfreien Sprache zu bedienen sowie eigene rassistische Denk- und Gefühlsmuster zu reflektieren. Rassismus geht eben nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von Lehrkräften selbst aus. Eine Freundin erzählte mir beispielsweise folgende Anekdote:

„Wir sollten einen Brief an die deutsche Fußballnationalmannschaft schreiben. Ich meldete mich, weil ich meinen Brief vorlesen wollte und während ich vorlas unterbrach mich mein Deutschlehrer. Er fragte mich, wieso ich denn von unserer Nationalmannschaft sprechen würde, es sei doch nicht meine Nationalmannschaft. Als ich ihn daraufhin versuchte zu erklären, dass ich ja in Deutschland geboren und aufgewachsen sei, unterbrach er mich ein zweites Mal und forderte mich auf, meinen Satz umzuformulieren und nicht mehr von unserer Nationalmannschaft zu sprechen.“

Wenn Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht als ihre verstehen dürfen, dann sollen sie Deutschland nicht als ihr Land und Schulen in diesem Land auch nicht als ihre Schulen verstehen. 

 

Eine Schule für Alle

 

Solange Politik und Gesellschaft nicht klar definieren, wen sie meinen, wenn sie von unseren Kindern sprechen, werden wir nicht in der Lage sein, Schule als einen Ort zu kreieren und zu verstehen, in dem ALLE Kinder eine Stimme haben und in dem die Lebensrealität von allen Schüler*innen in die  Unterrichtsplanung einfließt. 

Heute frage ich mich oft, wie ich durch meine Schulzeit gegangen wäre, hätte ich gelernt, Fragen wie „Woher kommst du ursprünglich? Was bedeutet dein Name? Warum sprichst du so gut deutsch?“ einzuordnen und mich gegen subtilen sowie offenen Rassismus zu stellen. Es ist unsere Pflicht als Schule, Politik und Gesellschaft, unseren Kindern eine wertschätzende Umgebung zu ermöglichen - in und außerhalb der Schule. Und es ist unsere Pflicht, unsere Kinder zu befähigen, diskriminierende sowie rassistische Erfahrungen klar benennen und gegen sie vorgehen zu können. Ein Bildungssystem, das an den Bedarfen der Gesellschaft sowie seiner Schüler*innenschaft vorbei handelt, ist durchgefallen und muss dringend seine Hausaufgaben nachholen.

 

 

Megjide Hiseni setzt sich als Coachin bei einem Bildungsträger in Hannover  für die gesellschaftliche und politische Teilhabe marginalisierter Gruppen ein. Sie studierte Politik-Wirtschaft und Deutsch auf Gymnasiallehramt mit dem Schwerpunkt Sozialisation und politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der Leibniz Universität Hannover. Megjide Hiseni ist Mitglied bei der SWANS Initiative und gestaltete gemeinsam mit Mary Ivić (duvia),Yasaman Vieregge (EXIL e.V., SWANS) und dem ndo-Team den Bildungsgipfel konzeptionell aus.

 

Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Bildungsgipfels “Antidiskriminierung.Macht.Schule” den die ndo im März 2022durchführen. Am Montag, den 14.3. geht es los mit einer Input-Veranstaltung zu Bildung & Rassismus. Am 17.3. diskutieren wir mit unseren Netzwerkmitgliedern Erwartungen und Wünsche an ein gerechtes Bildungssystem. Diese stellen wir anschließend in einer Podiumsdiskussion mit Politiker*innen,Schüler*innen und Bildungsaktivist*innen am 24.3. einem breiteren Publikum vor. Seid gespannt!