Die Corona-Krise verschärft Ungleichheiten im (digitalen) Klassenzimmer

Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat selbst als Lehrer gearbeitet und forscht gegenwärtig u.a. zu den Schwerpunkten Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sowie diversitätssensible Lehrer*innenbildung.

 

Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie sich in der Corona-Krise die Auswirkungen von Rassismus und Klassismus im deutschen Bildungssystem verstärken, welche langfristigen Konsequenzen für Schüler*innen drohen, und ob die Krise tatsächlich auch Chancen für ein gerechteres Bildungssystem bietet.

 

1. Rassismus und Klassismus führen zur systematischen Benachteiligung von betroffenen Schüler*innen im deutschen Bildungssystem. Das belegen zahlreiche Studien. Verstärkt die Corona-Krise und das gegenwärtige „Home-Schooling“ diese Dynamik? 


Ja, in der gegenwärtigen Krise zeigen sich diese Effekte wie unter einem Brennglas. Rassismus und Klassismus führen bereits isoliert voneinander dazu, dass Schüler*innen, die als „fremd“ betrachtet werden sowie Schüler*innen, denen aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen ihrer Eltern negative Eigenschaften wie Dummheit, Faulheit und Schmutzigkeit zugeschrieben werden, Nachteile erfahren. Wenn diese beiden Ungleichheitsstrukturen in Kombination miteinander auftreten, dann verstärken sich die Nachteile. Das ist unter Corona für betroffene Schüler*innen vermutlich noch deutlicher als sonst zu spüren. Besonders fatal wirkt sich diese Krise für geflüchtete Schüler*innen aus, die, aufgrund der Schulschließungen wichtige Lernzeiten verpassen und aufgrund der geringen finanziellen Ressourcen ihrer Familien, wahrscheinlich keine adäquaten Lernumgebungen (eigenes Zimmer) und Lerninstrumente wie PC‘s zur Verfügung haben.

        

2. Wie wirken sich rassistische und klassistische Diskriminierung in der Corona-Krise im Bereich-Bildung konkret auf Schüler*innen aus?

Diese Krise verstärkt die ohnehin im deutschen Bildungswesen vorhandene mangelnde Chancengleichheit von Schüler*innen, die als „fremd“ und „arm“ gelten. Menschen, die zu „Fremden“ gemacht werden, sind stärker von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen, sodass diese Menschen folglich mehr Abwertung von Menschen erfahren, die sich als „ganz normalen Teil der Gesellschaft“ verstehen und vergleichsweise mehr finanzielle Möglichkeiten besitzen. In unserer Gesellschaft werden soziale Problemlagen oftmals kulturalisiert, indem u.a. von Mitschüler*innen und Lehrer*innen behauptet wird, dass die „Kultur“ von bestimmten Schüler*innen für Ihre Armut verantwortlich sei. 

    

3. Wer ist am meisten von den benachteiligenden Mechanismen betroffen? 

Dass Schüler*innen in Familien leben, die einen geringen sozioökonomischen Hintergrund aufweisen, muss nicht zwangsläufig zu Klassismus führen. Klassismus als Folge des geringen sozioökonomischen Hintergrunds ihrer Familien erfahren Schüler*innen erst, wenn Mitschüler*innen sie aufgrund ihrer Kleidung abwerten oder Lehrer*innen ihnen weniger zutrauen als ihren Mitschüler*innen, die aus Mittelschichtsfamilien stammen. Bislang wissen wir zu wenig über klassismusrelevantes Verhalten von Schüler*innen und Lehrer*innen. Die Forschungslage zu der Frage, wie der sozioökonomische Hintergrund den Bildungs(miss)erfolg beeinflusst, ist besser: Im Vergleich zu anderen Staaten wirkt sich in der BRD der sozioökonomische Hintergrund von Familien ganz besonders stark auf den Schul(miss)erfolg von Kindern aus. Je höher das Einkommen der Eltern, desto besser sind die Bildungschancen ihrer Kinder. 

Durchschnittlich wächst jedes sechste Kind in Armut auf, wobei es diesbezüglich große regionale Unterschiede gibt. In Bremen und Berlin ist jedes dritte Kind arm; in Bayern ist es nur jedes 14. Kind. Darüber hinaus spielt auch die Familienstruktur eine Rolle: Die Hälfte der Kinder, die von Alleinerziehenden großgezogen werden, und mehr als ein Drittel der Kinder, die mehr als vier Geschwister haben, sind von Armut bedroht.  

Der faktische oder zugeschriebene ‚Migrationshintergrund‘ alleinig betrachtet besitzt nur eine geringe Aussagekraft, wenn es um Bildungschancen von Schüler*innen geht. Bildungsungleichheit ist ein vielschichtiges Phänomen, sodass die folgenden Faktoren berücksichtigt werden müssen: a) der soziale Hintergrund von Familien; b) das Professionsverständnis von Lehrer*innen (inklusiv oder selektiv sowie rassismusrelevant oder rassismuskritisch bzw. klassistisch oder ungleichheitssensibel); c) Schulstruktur des Wohnortes (existieren unterschiedliche Schulformen, die weniger auf Selektion und vielmehr auf Förderung ausgerichtet sind und Schulformen, die mehrere Schulabschlüsse nebeneinander zulassen); d) Schulkultur der Einzelschule (existieren multiprofessionelle Teams und Ganztagsangebote sowie außerschulische Förderangebote); e) Bildungsaspiration und Bildungszertifikate der Eltern und der Peers; f) Aufenthaltsstatus der Familie; g) Anzahl der Schüler*innen ‚mit Migrationshintergrund‘, die in der Schule und im Schulstandort beschult werden (je größer der Anteil, desto bessere Chancen).               

 

4. Können Lehrer*innen etwas tun, um die Ungleichheitsdynamiken für betroffene Schüler*innen in der Coronazeit abzumildern?

Lehrer*innen sollten sich, auch unabhängig von Corona, mit unterschiedlichen Ungleichheitsstrukturen (Antisemitismus, Rassismus, Klassismus, Heteronormativität, Sexismus) auseinandersetzen und die Alltagsrealitäten ihrer Schüler*innen und Kolleg*innen ernst nehmen. Überall da wo Menschen zusammenkommen, existieren Ungleichheitsstrukturen. Um Ungleichheitsstrukturen abzubauen, müssen Lehrer*innen anerkennen, dass wir in einer rassistischen, sexistischen, klassistischen und heteronormativen Gesellschaft leben. Diese Ungleichheitsstrukturen werden u.a. in der Schule reproduziert. Dieses Wissen sollten Lehrer*innen nutzen, um einen ungleichheitssensiblen Unterricht durchzuführen. Allerdings sollten individuelle Maßnahmen der Lehrer*innen von institutionellen Veränderungen flankiert werden. Lernen benötigt Zeit, und die Größe der Lerngruppe ist nicht unerheblich für den Bildungserfolg. Zudem verhindert die frühzeitige Selektion in Klasse vier bzw. sechs Bildungsgerechtigkeit. Ferner sollten Ganztagsschulen ausgebaut und die Ausgaben für den Elementar- und Primarbereich erhöht werden.  

 

5. Welche langfristigen negativen Folgen können sich aus der Corona-Krise für Schüler*innen, die von Rassismus und/oder Klassismus betroffen sind, ergeben? 


Die deutsche Schule ist generell darauf ausgerichtet, dass Eltern ihren Kindern helfen und sie unterstützen. Kinder haben bessere Chancen, im deutschen Schulwesen bildungserfolgreich zu werden, wenn schulrelevante Andere sie unterstützen. In Finnland ist der Einflussfaktoren der Eltern geringer als in Deutschland, weil schulische und außerschulische Förderangebote existieren, die günstig oder kostenlos sind. Die langfristigen Folgen für Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, unterstützend zu agieren, ist, dass diese Kinder noch stärkere Bildungsbenachteiligung erfahren, weil sie beispielsweise keinen Schreibtisch, PC und Drucker besitzen, um die Hausaufgaben zu Hause zu erledigen, oder weil niemand vorhanden ist, der ihnen erläuternd beisteht. Die Krise hat dazu geführt, dass die Schwächen des Bildungssystems auch für die Privilegierten sichtbar geworden sind.     


6. Voraussichtlich wird die Schule bald wieder beginnen und in Klassenräumen stattfinden. Sehen Sie in der gegenwärtigen Corona-Krise auch die Chance für systematische Verbesserungen im Bildungssystem? 

Derzeit geht es um die Bewältigung dieser Krise und nicht darum, Maßnahmen der vorschnellen Rückkehr zur „Normalität“ vorzubereiten. Ich denke, dass eine frühzeitige Öffnung der Schulen fatale Folgen haben wird. Derzeit geht es um Leben und Tod und deshalb sollten die Landesregierungen nicht voreilig die Schulen öffnen. Die Corona-Krise als Chance zu werten halte ich für zynisch. Meiner Meinung nach hätte es nicht tote Menschen gebraucht, um den digitalen Wandel in den Schulen herbeizuführen. Gleichzeitig denke ich, dass der Umfang digitaler Inhalte für den schulischen Gebrauch nach der Krise zunehmen wird. Aber um an der digitalen Transformation zu partizipieren, benötigen Schulen und Eltern finanzielle Ressourcen und Lehrer*innen müssen adäquat aus- und fortgebildet werden. Das Schulministerium muss dafür Sorge tragen, dass alle Schüler*innen an der Digitalisierung partizipieren können, sonst würden sich analoge und digitale Ungleichheiten potenzieren und die bereits bestehende Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem vergrößern. Alle Schüler*innen, deren Familien es sich nicht leisten können, müssten sich anonym bei Schulverantwortlichen oder Behördenmitarbeiter*innen des Schulministeriums melden können, um die Ausrüstung für die digitale Teilhabe zu erhalten. Die digitale Transformation der Schule kann nicht im vierwöchigen Shutdown gelingen. 

 

Wir danken herzlich für das Gespräch.