Es gibt nicht die eine Strategie gegen Antimuslimischen Rassismus. Ein Gespräch mit Prof. Schirin Amir-Moazami.

Anlässlich der Aktionswochen gegen Antimuslimischen Rassismus haben wir mit Prof. Schirin Amir-Moazami gesprochen über Awareness für Antimuslimischen Rassismus, dem Diskurs um Islamismusprävention und was es braucht, damit Maßnahmen gegen Antimuslimischen Rassismus wirklich wirksam sein können.

Stellen Sie sich gerne kurz vor.

Sehr gerne. Ich bin seit 2009 Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin, eigentlich vom Hause aus Politikwissenschaftlerin und Soziologin. Ich vertrete am Institut für Islamwissenschaft den Profilbereich „Islam in Europa“ und beschäftige mich in meiner Forschung insbesondere mit Fragen der Regulierung und Regierung von kultureller und religiöser Pluralität in formalrechtlich liberalen-säkularen Gesellschaften Europas. In dem Zusammenhang geht es mir auch um kritische Säkularismusforschung und auch um die Frage, wie muslimische Praxis sich in diesen formalrechtlich säkularen Kontexten verorten kann und welche Hindernisse es gibt. Aber auch, wie sich die muslimische Praxis im liberal-säkularen Kontext möglicherweise verändert, auch im Verhältnis zu islamisch geprägten Ländern. Ich bin als Politikwissenschaftlerin also auch an islamwissenschaftlichen Fragen interessiert. Ich versuche immer, disziplinären Grenzen zu überwinden, und eher interdisziplinär zu arbeiten und zu lehren.

Ja, vielen Dank. Sie haben schon das Stichwort muslimische Praxis verwendet. Nun wissen wir leider, dass gerade in den letzten Jahren das Muslimisch-sein durch mancherlei Hürden zivilgesellschaftlich aber auch institutionell erschwert wird und die muslimische Community Diskriminierung erfährt. Der Anlass, warum wir heute zusammengekommen sind, ist die in dem Kontext initiierte Aktionswoche, oder mittlerweile sind es die Aktionswochen gegen Antimuslimischen Rassismus. Wir als ndo möchten das Thema für unsere Community aber auch gesamtgesellschaftlich sensibilisieren. In diesem Sinne: wie definieren Sie Antimuslimischen Rassismus? 

Ich bin tatsächlich keine ausgewiesene Expertin für Antimuslimischen Rassismus und würde mich selbst nicht unbedingt direkt in dem Forschungsfeld verorten – was nicht bedeutet, dass ich kein Bewusstsein dafür habe, dass Antimuslimischer Rassismus existiert. Ich habe keine Kompaktdefinition von Antimuslimischem Rassismus parat. Aber knappgefasst, ist Antimuslimischer Rassismus für mich, wie jeder andere Rassismus, ein Ungleichheitsverhältnis, ein Hierarchisierungsverhältnis – ein Verhältnis, bei dem eine bestimmte Gruppe, und in dem Fall sind das Muslim*innen oder als solche markierte, in der Rangordnung des Menschseins diskursiv und strukturell untergeordnet werden. Daran sind auch Institutionen beteiligt, in denen das allerdings selten als Rassismus oder als Rangordnungsschema verstanden wird. Also gerade in Institutionen, in denen wir in liberal-säkularen Gesellschaften interagieren, wird ja Gleichheit formalrechtlich großgeschrieben, und deswegen werden diese Ungleichheitsverhältnisse und die Rangordnung, die trotzdem auch institutionell reproduziert werden, gar nicht als Rassismus empfunden. Oft laufen sie subtil ab, manchmal aber auch sehr offenkundig. Daher geht es beim Begriff Antimuslimischer Rassismus insbesondere auch darum, die strukturelle Ebene des Rassismus‘ in den Blick zu kriegen und auch die Formen, die gar nicht erst als solche wahrgenommen werden. Auch weil diese Ausschlüsse auf sehr unterschiedliche Weise zur Geltung kommen, finde ich eine Kompaktdefinition nicht sehr brauchbar.

Ich habe außerdem teilweise meine Schwierigkeiten mit dem Präfix „Anti“, weil ich meine, dass wir damit die Formen und Ebenen der Veraußergewöhnlichung in den Blick bekommen, die mit Rassismus verbunden sind, vor allem Rassismus, der sich speziell gegen Muslim*innen richtet. Anti heißt immer, es wird eine Feindschaft konstruiert. Es gibt einen Gegenpart. Es ist wichtig, diese virulenten und sehr offenkundigen Konstruktionen von Feind-Freund deutlich zu machen und auch die gewaltförmigen Varianten ernst zu nehmen, die mit Antimuslimischem Rassismus verbunden sind. Ich denke aber, dass wir mit diesem Präfix die subtileren Formen des Rassismus, etwa in Form von Einverleibungen, nicht zu fassen kriegen. Einverleibung insofern, als dass wir Muslime oder das „Andere“ anerkennen, gleichzeitig aber versuchen, das „Andere“ auf eine Art und Weise zu verändern, dass es unserem imaginierten Selbstverständnis als gleiche und freie Bürger*innen entspricht. Das ist auch eine Variante von Rassismus, weil hier trotzdem eine Rangordnung konstituiert wird, bei dem der Andere zwar als Freund angesprochen wird, ihm aber im Gegenzug für die Freundschaft einiges an Anpassung abverlangt wird. 

Was ich an der Forschung zu Antimuslimischem Rassismus teilweise schwierig finde, ist das, was Elad Lapidots für den Kontext des Antisemitismus als „Anti-Anti-Semitismus“ zu fassen versucht hat: In dem Eifer, gegen Antimuslimischen Rassismus zu wirken, wird auf unterschiedlichen Ebenen davon ausgegangen, dass muslimische Subjekte eigentlich nur als Effekt von Rassismen existieren. Wir nehmen das Muslimsein nicht wirklich als politische Subjektivität und als Möglichkeit der Handlungsmacht wahr, sondern eigentlich nur als Effekt von Abwehr bzw. Rassismus. Dadurch geraten die vielfältigen muslimischen Lebensformen teilweise aus dem Blick und die Handlungsmacht der Muslim*innen wird dadurch untergraben. Das bringt das Zitat von Sartre, den Lapidot in dem Kontext zitiert, sehr gut auf den Punkt: „Der Jude existiert eigentlich nur als Jude, weil er vom Antisemiten zu Juden gemacht wird.“ Damit kann es kaum noch eine jüdische Identität jenseits des Antisemitismus geben. Ähnliches wird teilweise im Zusammenhang mit Antimuslimischem Rassismus gesagt. Es wird gesagt, der Muslim sei nur der Effekt vom Antimuslimischen Rassismus, eine Figur, die nur im Imaginär seiner Feinde existiert. Die vielfältige muslimische Praxis und der Islam als Ressource für ethisches und politisches Handeln werden dabei kaum ernstgenommen.

Damit haben Sie gut zu meiner nächsten Frage übergeleitet, nämlich: Wie schätzen Sie den Diskurs um Antimuslimischen Rassismus in Deutschland ein?

Ich habe mich in den letzten Monaten vermehrt mit den Logiken der Islamismusprävention beschäftigt, die zivilgesellschaftlich und sicherheitspolitisch weiterhin eine wichtige Rolle spielt, obwohl die Zahlen rückläufig sind. Mir aufgefallen, dass die Projekte gegen Antimuslimischen Rassismus sehr häufig mit Islamismusprävention verklammert werden. Daran wird ersichtlich, dass der Diskurs schon von Anfang an in eine problematische Stoßrichtung hatte. Denn erstens wird davon ausgegangen, dass Antimuslimischer Rassismus eigentlich vor allem ein Effekt von Islamismus sei. Zweitens wird impliziert, dass die Bekämpfung vom Antimuslimischen Rassismus gleichzeitig Islamismus eindämmen würde. Diese beiden Vorannahmen finde ich problematisch, weil Antimuslimischer Rassismus bekanntlich unabhängig vom Islamismus existiert, einmal ganz abgesehen davon, dass Islamismus selbst alles andere als klar konturiert ist. Zwar beobachte ich mit Zuversicht den neueren Trend, dass Antimuslimischer Rassismus in Deutschland thematisiert und auch ernst genommen wird. Die Aktionstage sind in dem Kontext ein wichtiger Schritt, weil sie das Thema weiter öffentlich machen. Jedoch ist auffällig, dass viele Förderprogramme nach wie vor an die Präventionslogiken gekoppelt sind. In den Förderrichtlinien für zivilgesellschaftliche Projekte ist zu erkennen, dass Islamismusprävention zwar offiziell im Zentrum stehen soll, viele der geförderten Projekte aber insbesondere Antirassismus-Arbeit leisten, weil sie darin die Wurzel des Problems sehen. Außerdem wird Antimuslimischer Rassismus im öffentlich-medialen Diskurs immer noch viel zu selten als gesamtgesellschaftliches Problem thematisiert. Teilweise wird das Thema gezielt heruntergespielt, oder es kommen Sprecher*innen zu Wort, die Muslim*innen vorwerfen, sie würden in eine Opfer-Rhetorik verfallen und könnten keine Kritik vertragen. Vor kurzem gab es einen Brandanschlag auf eine Moschee in Hannover, der medial kaum bis gar nicht thematisiert wurde. 

Ein Netzwerkmitglied der ndo, nämlich die CLAIM Allianz versucht, derartige antimuslimische Übergriffe statistisch festzuhalten und damit die Wichtigkeit des Problems zu betonen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Dazu veröffentlichen sie demnächst auch einen Lagebericht, in dem die Fälle des Antimuslimischen Rassismus in Deutschland gesammelt werden. Sie betonen in Ihrer Forschung, dass Rassismus, in dem Fall Antimuslimischer Rassismus, nicht allein betrachtet werden sollte, sondern immer auch im Zusammenhang mit Religion. Was genau meinen Sie damit?

Ja, das ist eine sehr wichtige Frage, weil ich denke, es ist immer noch erklärungsbedürftig, warum überhaupt von Antimuslimischem Rassismus oder von Rassismus gegenüber Muslim*innen gesprochen wird und nicht etwa von Muslim- oder Islamfeindlichkeit. In Deutschland ist es ja so, dass „Rasse“ oder „race“ seit 1945 tabuisiert worden ist, weil Rassismus auf die Zeit 1933 bis 1945 reduziert wird, und das wollen wir alle loswerden. Weil „Rasse“ aus dem Vokabular verbannt wurde, wurde allerdings auch schwelender oder offenkundiger Rassismus tabuisiert – das mal so nebenbei gesagt. 

Es wird oft behauptet, Religion sei etwas Freiwilliges, das sich jederzeit ablegen oder unsichtbar machen ließe. Religion sei etwas, worüber jede Person selbst entscheiden kann. Religion sei also nicht angeboren, anders als „race“. Mit dieser Annahme wird Rassismus eigentlich reproduziert, weil Rassismus auf Phänotypen reduziert und nicht auf Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und deren kulturelle oder religiöse Praktiken erweitert wird. Der sogenannte „Kulturrassismus“ ist aber bereits in Kants anthropologischen Schriften zu finden. Darin werden Menschen nicht nur in Phänotypen sortiert – je heller, desto sublimer. Kant hierarchisiert auch Religionen in gefährliche, niedere und erhabene, vernunftaffine Varianten ein. Wenig überraschend, zählen Judentum und Islam zur ersten, das protestantische Christentum hingegen zur zweiten Kategorie. Beim Antimuslimischen Rassismus werden ähnliche Zusammenhänge von Race und Religion deutlich. Race und Religion haben als Differenzkategorien zeitlich im selben Moment des Imperialismus an Konturen gewonnen und sind auch Produkte des imperialen Aufklärungsdiskurses und daher eng miteinander verwoben. Mit dem Race-Religion-Nexus meine ich aber auch, dass wir Rassismus als Veraußergewöhnlichung und Degradierung von religiösen Praktiken mitbetrachten müssen, die als rückständig oder andersartig gebrandmarkt werden.

Das bezeichnen Sie ja auch in Ihrer Forschung als „Körperpraktiken“-

Ja, genau.

Was ist Ihrer Einschätzung nach wichtig, damit wir als Gesamtgesellschaft und Zivilgesellschaft konstruktiv gegen diese Feststellungen des Antimuslimischen Rassismus‘ vorgehen und ihn eindämmen können? Was können in dem Kontext insbesondere Migrant*innenselbstorganisationen und neue deutsche Organisationen leisten?

Ich glaube nicht, dass es die eine Strategie gegen Antimuslimischen Rassismus gibt. Es gibt viele verschiedene Strategien für unterschiedliche Akteur*innen, die wichtig sind. bell hooks hat das mit den unterschiedlichen Formen des „Talking Back“, also des Zurücksprechens, gefasst. Wenn wir rassistisch markiert werden, sollten gibt es verschiedene Strategien darauf zu antworten, eine darunter ist zu schweigen, sich also nicht auf den vorgegebenen Fragerahmen einzulassen.   

Ich denke, dass man gesamtgesellschaftlich und medial auf die verschiedenen Ebenen des Phänomens noch viel stärker aufmerksam machen muss. Es wird mittlerweile relativ viel über Rassismus gesprochen, aber nach wie vor gibt es sehr viele unbenannte Versionen des Rassismus und des Antimuslimischen Rassismus. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das ernst zu nehmen und nicht abzutun und als tiefsitzendes Problem zu benennen, weil es langfristig für die gesamte Gesellschaft schädlich ist, wenn ein Teil gezielt oder subtil ausgegrenzt wird.

Als Gesamtgesellschaft müssen wir insgesamt selbstkritisch mit unseren Vorannahmen umgehen und mit dem, wie wir uns als Gesellschaft definieren. Wir müssen uns klar machen, dass unser Wohlstand auf Ausbeutungsmechanismen basiert. Dazu gehört die Ausbeutung von Ressourcen und von Wissen und so weiter. Dazu gehören auch unterschiedliche Formen des Rassismus, weil Ausbeutung von Ressourcen immer schon auch mit Unterordnung und Unterjochung von Menschen zu tun hatte. Das zu thematisieren oder sich zu vergegenwärtigen, bedarf sehr viel mehr Selbstkritik und Bewusstsein darüber, dass wir in postkolonialen Kontexten leben.

Das ist aufjedenfall eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Welche Maßnahmen sollten Ihrer Meinung nach zivilgesellschaftliche Organisationen ergreifen, die sich mit Antimuslimischem Rassismus auseinandersetzen?

Ich finde die Vernetzung unter den Organisationen, die eine bestimmte Form von Rassismus bekämpfen sehr wichtig, also das Zusammendenken von unterschiedlichen Formen des Rassismus, aber auch anderen Diskriminierungsformen. Ich glaube, nur so kann man auf politischer Ebene wirksam sein und Lobbyarbeit betreiben. Das ermöglicht unter anderem auch, dass man gebündelt rechtlich gegen Diskriminierung und Rassismus vorgehen kann, sei es in Form von Öffentlichkeitsarbeit, rechtlichen Maßnahmen oder anderweitig, damit gezeigt werden kann, dass Rassismus nicht ein Problem einer kleinen Minderheit ist, sondern die gesamte Gesellschaft durchdringt.  

Eine Marke von den neuen deutschen organisationen ist auch, dass wir sagen, wir betreiben keine Integrationspolitik, sondern Gesellschaftspolitik. Wir haben also den Anspruch, nicht Politik für eine markierte Gruppe zu machen, sondern für die Gesamtgesellschaft und für das friedliche Miteinander in der Gesamtgesellschaft. Da ist es uns natürlich wichtig, diese vereinte Stimme zu vertreten. Denken Sie, dass die muslimische Minderheit im gesamtgesellschaftlichen Diskurs weiterhin markiert bleibt oder sich mit dem Anteil der hier sozialisierten Muslim*innen und ihrer Sichtbarkeit in verschiedenen Ebenen der Gesellschaft diese Markierung irgendwann auflöst und mehr Partizipation und Mitwirkung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ermöglicht wird? Was ist so ihre Vision dazu?

Wir können einfach nicht anders als hoffen, dass es sich irgendwann einmal verändert und wir nicht mehr die ganze Zeit über all die Ausschlussmechanismen sprechen müssen. Ich sehe da aber leider erste Tendenzen eines Backlashs. Die Lösung kann aber meiner Ansicht nach beispielsweise nicht in einer Form der Diversitätspolitik bestehen, in der mindestens eine Person of Color vertreten werden muss. Denn diese Kategorien werden fremdbestimmt. Eine marginalisierte Person ist nicht qua Natur ein besserer oder diversitätsfreundlicherer Mensch. Wir haben auch Antimuslimischen Rassismus, der von Muslim*innen befeuert wird. Die wachsende Präsenz von Muslim*innen in Institutionen oder in der Öffentlichkeit ist nicht per se die Rettung, solange nicht auch das ständige kritische Befragen der Strukturen mitläuft, in denen sich das abspielt. Das ist manchmal das Problem und Risiko des Diversitätsmanagements: Diversitätspolitik darf nicht im „happy talk“ steckenbleiben, wie es Sara Ahmed einmal ausgedrückt hat, sondern muss immer die fortbestehende Erzeugung von Ungleichheiten mit im Blick haben. Da sehe ich hierzulande noch sehr viel Nachholpotential.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit.

 

Prof. Schirin Amir-Moazami ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin, wo sie den Profilbereich Islam in Europa leitet. Seit 2009 ist sie Principal Investigator an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies und seit Principal Investigaror im Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Religionspolitiken in Europa, Politiken der Wissensproduktion, kritische Säkularismusforschung, Politische Theorie, Geschlechterfragen und postkoloniale Ansätze zu Islam in Europa.

Das interview führte Neval Güllü für die ndo.