„Es ist möglich, die Situation der geflüchteten Roma zu verbessern - aber es fehlt der politische Wille.“

Kenan Emini arbeitet für das Roma-Center in Göttingen, für das Roma Antidiscrimination Network und ist im Vorstand des Bundes Roma Verbandes. Er berichtet von massiver Diskriminierung gegenüber ukrainischen Roma – im Herkunftsland, auf der Flucht und auch bei der Aufnahme in Deutschland. Wir haben mit ihm über die Missstände gesprochen und darüber, was sich ändern muss, um die Situation der ukrainischen Roma zu verbessern.

Vor wenigen Wochen gab es zwei wichtige Gedenktage. Am 2. August wurde den während der NS-Diktatur ermordeten Sinti und Roma Europas gedacht. Kurz darauf jährte sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum 30. Mal. Auch hierzu gab es ein offizielles Gedenken. Was geht dir durch den Kopf, wenn du diese Veranstaltungen siehst?

Kenan Emini: Für uns sind diese Gedenktage wichtig. Es war ein langer Kampf, bis sie überhaupt stattfanden. Ich bin selber stark in die Organisation dieser Veranstaltungen involviert. Zum Beispiel haben wir in Zusammenhang mit Rostock-Lichtenhagen lange nach Zeitzeugen gesucht, die selber berichten können. Dieses Jahr war es nach 30 Jahren das erste Mal, dass wir jemanden gefunden haben, der bei dem Gedenken an die Opfer von Rostock aus Roma Perspektive berichtet.



Auch der 2. August ist ein sehr wichtiger Gedenktag. An diesem Tag wurden damals mehr als 4000 Roma in Auschwitz-Birkenau ermordet. Trotzdem war es ein langer Prozess, bis der 2. August als internationaler Tag des Gedenkens an den Genozid an den Sinti und Roma eingeführt wurde.

Kritisch sehe ich, dass der Fokus in Deutschland oft nur auf die deutschen Opfer gelegt wird. Wir reden in Deutschland über 200.000 bis 500.000 ermordete Menschen. In den osteuropäischen Ländern wurden zwischen anderthalb bis drei Millionen Roma und Sinti ermordet. Das sollte bei dem Gedenken nicht vergessen werden. Es gibt eine Doppelmoral in der Politik. Natürlich ist es auch ein Widerspruch, wenn man sieht, wie die Roma auch jetzt im Zusammenhang mit der Ukraine diskriminiert und benachteiligt werden und gleichzeitig an die ermordeten Menschen erinnert wird. Aber man muss sich erinnern. Das ist sehr wichtig.

Du hast gemeinsam mit anderen Menschen vom Roma Center Forschungsreisen in europäische Nachbarländer unternommen, um festzustellen, wie es den aus der Ukraine fliehenden Roma dort geht. Was habt ihr beobachtet?

Kenan Emini: Die Roma werden auf der Flucht auf allen Ebenen anders behandelt als die weißen Ukrainer. Es gab ganz viel Solidarität für weiße ukrainische Geflüchtete, nicht nur in Deutschland – auch in Polen und Tschechien und so weiter. Polen hat zum Beispiel anderthalb Millionen Ukrainer aufgenommen. Viel haben auch private Helfende geleistet, aber es gibt kaum private Familien, die Roma aufgenommen haben.

Es gab von Anfang an Segregation. Man hat die Roma an verschiedenen Stellen immer wieder von den weißen Geflüchteten getrennt. Zum Beispiel in Polen. Da durften die Roma zum Teil gar nicht erst in Busse einsteigen, weil erstmal die weißen Ukrainer versorgt wurden. Manche Roma wurden sogar nach Moldawien oder nach Rumänien gebracht, an Orte, wo nur Roma leben.

Aus Polen haben uns unsere Beobachter vor Ort, die 24/7 da waren, berichtet, dass Roma von einem großen Bus abgeholt wurden. Ein paar Tage später haben wir dann herausgefunden, dass einige dieser Leute zurück nach Lwiw in die Ukraine gebracht wurden. Das hat uns alles alarmiert, deswegen haben wir gedacht, wir müssen nach Polen gehen.

Alles in allem wollten es fast alle Regierungen den Leuten schwer machen, vor Ort zu bleiben. Die Roma sollten einfach weiter gehen, einfach weg. Und diese Ablehnung auf der Fluchtroute findet unabhängig davon statt, ob die Leute einen ukrainischen Pass haben oder nicht. Die meisten von den ca. 500 Tausend ukrainischen Roma haben ja Pässe, nur ca. 20 Prozent haben keine Dokumente. Die Ungleichbehandlung und die Diskriminierung von den Roma auf der Flucht kommt von den Regierungen und auch von den normalen Menschen.

Viele weiße Ukrainer wollten nicht mit Roma in den gleichen Unterkünften sein. Den Fall hatten wir auch in Deutschland, zum Beispiel in Hamburg und in Köln. Dort gab es richtige laute Proteste. Es hieß: „Wir wollen nicht mit Zigeunern zusammen in einem Lager sein, die klauen, sind schmutzig, die Kinder sind laut“ und solche Sachen. Segregation und Spaltung zwischen weißen Ukrainern und Roma gab es auf der Flucht überall. Wie gesagt, auch hier in Deutschland.

Wie ist die rechtliche Situation für die aus der Ukraine geflohenen Roma hier in Deutschland? Welche rechtlichen Ansprüche haben sie?

Kenan Emini: Die Leute, die ukrainische Pässe haben, kommen ganz normal durch den Prozess der Registrierung und sie haben die rechtlichen Ansprüche des § 24 genau wie die weißen Ukrainer. Das heißt, sie haben ein Recht auf Sozialleistungen, Arbeit, Wohnungen und so weiter. Nur das Problem ist, dass diese Rechte nicht richtig eingelöst werden.

Bei den Roma Familien kommen oft viele Leute zusammen. Und diese Gruppen werden nicht in Wohnungen untergebracht, sondern in irgendwelchen Unterkünften. Oft sind das Container oder Armeezelte, weit außerhalb der Städte. Da sind sie dann isoliert. Supermärkte sind weit entfernt. Schulen sind viele Kilometer entfernt.

Es ist für uns ein Problem, dass die Leute überhaupt keine richtigen Wohnungen bekommen. An sich verstehen wir, dass es nicht viele Wohnungen für Großfamilien gibt. Aber die Auswirkungen der zentralen Unterbringung sind groß.

Uns macht es große Sorge, dass die Kinder wegen der Entfernungen nicht in die Schule gehen. Die Kinder sind im März gekommen und bis heute nicht richtig eingeschult. Weil es keine Schulen und Kindergärten in den Gegenden gibt, wurden alternative Schulen in den Unterkünften eingerichtet. In denen unterrichten irgendwelche Volontäre, die Ukrainisch sprechen. Aber das sind keine richtigen Schulen, wie die, in die die meisten weißen ukrainischen Kinder gehen. In Hamburg ist das zum Beispiel der Fall, aber nicht nur dort. Es ist allgemein ein bundesweites Problem.

Ohne Wohnung bekommen die Leute dann auch keine Arbeit. Sie stecken in den Unterkünften fest und verlassen die überhaupt nicht. Wie auch, sie sind kaum mobil, weil die Verkehrsanbindungen sehr schlecht oder gar nicht vorhanden sind. Die Frage ist, was machen wir da und wie machen wir weiter?

Findet die Diskriminierung der ukrainischen Roma deiner Ansicht nach genügend Beachtung in der medialen Berichterstattung?

Kenan Emini: Nein, es wird nicht genug darüber gesprochen, deswegen machen wir das, was wir machen. Uns geht es in erster Linie darum, für das Thema zu sensibilisieren. Zum Beispiel wurde über die Proteste der weißen Ukrainer bei der gemeinsamen Unterbringung mit Roma sehr selten berichtet. Dabei ist es am Anfang zumindest immer wieder passiert, dass die weißen Ukrainer ihren guten Ruf wegen dieser Menschen nicht aufs Spiel setzten wollten und in getrennte Unterkünfte wollten. Das ist ein sehr sensibles Thema, die Ukrainer fliehen vor Krieg, dann will man sie nicht noch beschuldigen. Das verstehe ich. Aber die Segregation hat für die Roma große Folgen. Über die Unterbringung in den Baracken außerhalb der Städte und Zentren wird bisher auch zu wenig berichtet. Es ist auch viel zu wenig bekannt, dass die Roma-Kinder nicht in richtige Schule gehen können. Im Gegenteil, dass die Kinder nicht in die Schule gehen, wird oft mit den rassistischen Vorurteilen gegenüber Roma selbst erklärt. Nach dem Motto: „Ja, die wollen nicht und die sind lieber unter sich und so“. Ich finde das total schade. Das ist alles ein echtes Problem. Es gibt auch noch das Problem, dass für Roma häufig weiße Ukrainer übersetzten. Der Konflikt geht dann oft schon da los, dass die meisten Roma Russisch sprechen und die Ukrainer kein Russisch mehr sprechen wollen. Das kann man auch verstehen. Es ist aber ein Problem, weil die Roma davon abhängig sind, dass die Ukrainer in dieser Situation übersetzen. Auch, weil die Roma zum Teil über Diskriminierung durch die weißen Ukrainer selbst berichten und die das dann nicht übersetzen. Teilweise übersetzen sie auch falsch oder verfremdet. Das ist ein altes Problem, das uns auch immer wieder bei den geflüchteten Roma aus Jugoslawien begegnet ist.

Welche Rolle spielt Klassismus bei der Ausgrenzung der Roma?

Kenan Emini: Das ist auf jeden Fall ein Teil der Diskriminierung. Wir haben eine Telefonhotline eingerichtet für geflüchtete Roma, die Hilfe brauchen und darüber haben uns auch viele Sachbearbeiter und Sozialarbeiter aus den Heimen und Unterkünften erreicht. Die sagen uns einfach, dass die Roma keine richtigen Geflüchteten sind. Obwohl es hier um die Leute geht, die alle Papiere haben und nachweislich aus dem Kriegsgebiet kommen. Sie werden trotzdem als Menschen betrachtet, die nur hier sind, weil sie die Sozialleistungen ausnutzen wollen. Also obwohl diese Leute ukrainische Pässe habe, werden sie als sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ betrachtet.

Man merkt überall, dass die Geflüchteten aus der Ukraine in zwei Gruppen geteilt werden. Für die eine Gruppe gibt es volle Unterstützung. Ich finde das auch gut – auch, dass ganz normale Bürger sich solidarisch am Schutz beteiligen wollen. Gleichzeitig sind bei diesen Aufnahmen die Roma immer übriggeblieben. In allen Ländern. Es heißt immer, die Roma sollen sich integrieren. Aber gleichzeitig heißt es, es gibt keine Wohnungen für so große Familien, deshalb müssen sie außerhalb untergebracht werden. Aber dadurch bleiben die Menschen abgehängt, sie finden keine Arbeit, ihre Kinder können nicht in richtige Schulen gehen. Und dann wiederholt sich die Spirale von den antiziganistischen Klischees, dass die Roma nicht arbeiten, klauen, dreckig sind und so weiter.

Welche Forderungen habt ihr an die Politik? Was muss passieren, um die Situation der Roma schnell zu verbessern?

Kenan Emini: Für uns ist das Wichtigste, dass diese Leute in vernünftige Wohnungen kommen. Davon hängt viel ab. Man könnte auch eine Familie in drei Wohnungen in der Nähe voneinander unterbringen, es müsste ja nicht eine große Wohnung für alle zusammen sein.

Man sollte wissen, dass Kommunen für die Unterbringung in den Containern auch Geld bekommen. Es gibt für diese Art von Unterbringung Verträge und die laufen über längere Zeiträume, Minimum ein oder zwei Jahre und so bleiben die Leute dann in den Unterkünften stecken, auch weil die dann ja belegt werden müssen. Das Ganze ist also auch ein Business, bei dem bestimmte Leute profitieren.

Es ist möglich, die Situation für die Roma zu verbessern – aber es fehlt der politische Wille.  

Man könnte auch Wege finden, um die Kinder in die Schulen zu bringen – Schulbusse, die die Kinder in Schulen fahren, wären schon eine wichtige Maßnahme. Das ist kein unbezahlbarer Luxus.

Es gibt viele Dinge, die nicht funktionieren oder nicht eingeführt werden, hauptsächlich, weil die Roma nicht als richtige Geflüchtete gesehen werden, einfach, weil sie Roma sind.

Eine weitere wichtige Forderung ist die nach gleichen Rechten für die undokumentierten Roma aus der Ukraine. Diese werden aktuell meist nicht nach § 24 aufgenommen und erhalten folglich nicht dieselben Privilegien wie die anderen Ukrainer. Darauf haben wir die Politik schon von Anfang an aufmerksam gemacht, aber bisher gibt es keine zufriedenstellende Lösung für das Problem.

Teil der Arbeit des Roma Centers ist auch die Produktion von Filmen und Theaterstücken. Was kann oder muss auch die Kultur tun, um dazu beizutragen, die Situation der Roma zu verbessern?

Kenan Emini: Wir haben schon ganz viele Sachen gemacht, ob das kleine oder große Filme oder Dokumentarfilme oder Theater war. Für mich fällt das alles unter politische Arbeit. Wir versuchen dieses Thema in verschiedenen Formen in die Gesellschaft hineinzubringen. Es geht immer darum, für das Thema zu sensibilisieren und das kann und muss auch über die Kultur passieren.

Wenn man zum Beispiel eine Netflix-Serie anguckt, sind mittlerweile viele Communitys präsent. Aber die Roma siehst du nirgendwo repräsentiert. Es fehlt die Frequenz, die nötig ist, damit Leute dann mit ihren Rassismen konfrontiert werden und sie überdenken müssen. Kultur kann einiges tun. Sie kann für Sichtbarkeit sorgen und die Situation der Roma bewusst machen. Das ganze Thema und die Lebensrealität von Roma erreicht die Mehrheitsgesellschaft viel zu wenig. Es gibt für dieses Thema auf den großen Bühnen und auch in den Medien keinen Platz und das schon seit so vielen Jahren. Das hat alles eine sehr alte Historie. Seit Hunderten von Jahren wiederholt sich immer wieder die gleiche Geschichte von Ausgrenzung und Unsichtbarmachung.

 

Das Interview führte Nasiha Ahyoud für die ndo