"Jeder soll wissen, was in München passiert ist." Im Gespräch mit Hasan und Sibel Leyla über den Anschlag am OEZ München

Zum sechsten Mal jährt sich am 22. Juli der OEZ-Anschlag in München. Noch immer bleibt ein wirksames, kollektives Erinnern an die Opfer aus. Wir sprachen mit Sibel und Hasan Leyla über den Kampf um die Anerkennung des Anschlags als rechtsterroristische Tat und dafür, das Gedenken im kollektiven Gedächtnis zu verankern.

 

Am 22. Juli 2016 ereignete sich ein rechtsterroristischer Anschlag am OEZ in München. Dieser war einer der schlimmsten Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik. Neun vor allem junge Menschen wurden ermordet. Die Opfer waren Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja. Bei diesem Anschlag habt ihr euren Sohn Can verloren. Wie trauert ihr heute, 6 Jahre nach der Tat?

 

Familie Leyla: Was genau heißt, wir trauern? Jeder Freitag ist für uns beispielsweise ein trauriger Tag, weil wir freitags immer Can besuchen, ab und zu natürlich auch unter der Woche, aber er wurde an einem Freitag ermordet.
Aber den Schmerz, den wir empfinden, können wir dir nicht beschreiben. Jeder Tag ohne Can ist natürlich für uns ein Riesenverlust. Damit kann man nicht einfach abschließen. Also, es gibt dafür keine Wörter. Unser Can wurde von uns weggenommen. Und jetzt stehen wir kurz vor dem 6. Jahrestag und es ist für mich genauso wie am 6. Tag. Das können nur die Menschen verstehen, die den gleichen Schmerz erlebt haben wie wir.

 

Lange wurde diese Tat ja als Amoklauf deklariert. Erst 2019, also 3 Jahre nach der Tat, wurde sie überhaupt als rechtsextrem oder politisch motiviert rechts eingestuft. Warum hat das eurer Meinung nach so lange gedauert?

 

Familie Leyla: Das müsstet ihr die Politik fragen. Eigentlich gehört nicht viel dazu, um den rechtsextremen Hintergrund zu erkennen. Ich meine es war der 5. Jahrestag des Anschlags in Norwegen. Und der Täter hat die gleiche Waffe benutzt. Und die Ermordeten hatten alle Migrationshintergrund. Was muss man studiert oder geforscht haben, um da jetzt zu merken, dass es nicht nur ein Amoklauf sondern rechter Terror ist? Aber irgendwie war es für die Politik sehr wichtig, dass es als Amoklauf gilt. Es ist zwar jetzt bewiesen – dafür haben wir gekämpft – aber natürlich kam das zu spät. Wenn man über den Terror redet von Bundesrepublik Deutschland, dann spricht kein Politiker vom OEZ München. Keiner! Die betonen Hanau, Halle, Oktoberfest, NSU, aber OEZ München betont keiner, nimmt keiner in den Mund. 
Dass das rechter Terror ist, habt ihr das in irgendeinem Medium gelesen oder gesehen? Nein! Die haben uns das persönlich gesagt, quasi grob unterm Tisch, ihr habt doch recht gehabt. Wir ändern die Inschrift am Denkmal und da hat sich die Sache erledigt. So einfach darf das nicht sein. So wie ihr euch getraut habt, 3 Jahre von Amok zu reden, so müsst ihr euch auch mal trauen vor den Fernsehkameras zu sagen: Hey wir haben uns doch getäuscht, es war doch kein Amok, sondern die Angehörigen hatten recht, dass es rechter Terror war. Und warum das so lange gedauert hat, muss man echt die Politik fragen. 

 

Welche Fehler haben die Behörden euch gegenüber gemacht?

 

Familie Leyla: Das war Beispiel beim Waffenhändlerprozess schlimm. Also wie der Staatsanwalt und wie der Richter mit dieser Sache im Gerichtsprozess mit uns umgegangen sind. Egal, welche Beweisanträge unsere Anwälte vorgeschlagen haben, sie wurden abgelehnt. Das zum Beispiel mit diesem Darknetbetreiber. Da waren wir auch in den Gerichtsverhandlungen, das war schlimm. 

Also, das Problem war, das Sondereinsatzkommando, die haben die Wohnung gestürmt von dem Darknetbetreiber, haben die festgenommen und alle PCs waren offen. Die brauchten nur reinschauen und alle Beweismittel raussuchen. Was hat der liebe Beamte gemacht? Der steckt das Netzkabel von dem PC einfach ab. Und als Entschuldigung kam nur: Tut mir Leid, ich dachte, das ist das Netzkabel von der Waschmaschine. Wer soll das glauben? Sowas haben wir miterlebt. Ein anderes Beispiel sind die Beamten, die als Zeugen eingeladen wurden. Natürlich die haben ihre Auswahl gemacht. Aber wenn unsere Anwälte Fragen gestellt haben, bei denen die Beamten sich in Unklarheiten und Lügen verstrickten, dann haben die sich gegenseitig das zugeschoben. Dann kam der nächste Beamte, der das auch nicht beantworten konnte, und am Ende dann der letzte Kollege der ein verdeckter Ermittler war – und nicht antworten musste. Und so kamen sie dann um eine Antwort herum.

 

Ihr zweifelt ja auch daran, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, auch wenn diese These von Behörden vertreten wird und lange im Raum stand. Warum?

 

Familie Leyla: Der Waffenhändler zum Beispiel, der war unserer Ansicht nach Mittäter. Der war ja in dieser Gruppe, also auf dieser Spieleplattform, wo sie mit dem Mörder vorher geschrieben haben. Und dann so Sachen gesagt haben, wie diese "Türkenratten" müssten sterben, sie hätten in Deutschland nichts zu suchen. Es gab einfach so viele Beweise, die darauf hindeuten, der war auch ein Mittäter. Und er hat dem Täter zum Beispiel 600 Patronen geschenkt.

 

Dieses Jahr mobilisiert ihr bundesweit zum Gedenktag. Wie kam es dazu?

 

Familie Leyla: Also die ersten fünfeinhalb Jahre gab es leider sehr wenig Bewusstsein für den Anschlag. Wir mussten echt kämpfen, meine Frau und unsere Anwältin Claudia Neher, damit wir was erreichen konnten. Aber Gott sei Dank tut sich seit diesem Jahr Einiges. Wir gründen gerade eine Initiative mit Angehörigen und Engagierten in München und sind auf sehr gutem Wege. Da sind jetzt sehr tolle Leute, die uns viele Aufgaben von unserem Rücken wegnehmen – Gott sei Dank. Davor mussten wir uns um so Vieles kümmern, dass keine Zeit zum Trauern blieb. Wir mussten erst einmal aufstehen, um immer wieder zu erklären, dass es kein Amok war. Wir sind auch enttäuscht von den offiziellen Trauerfeiern. Denn die Stadt München ist nicht auf uns zugekommen. Anstatt dass die uns einladen, mussten wir sie einladen, mit uns zu trauern. Und selbst dann kamen sie nicht. Und wenn wir irgendwas mal vorgeschlagen haben oder einen Antrag gestellt haben, dass wir halt den Trauertag bis zu einer bestimmten Zeit wollen, haben die das immer abgekürzt oder Auflagen gemacht, wer reden darf.

 

Ihr habt auf sozialen Medien sehr erfolgreich mobilisiert in den letzten Wochen, in mehreren Städten sind Kundgebungen am Freitag geplant. Nach dem 22.07.2022 wollt ihr aber weitermachen. Wie können Menschen euch dabei unterstützen?

 

Familie Leyla: Vor allem mit mehr Aufmerksamkeit. Das hilft uns auch, nicht alleine zu kämpfen, weil wir sonst nur bis zu einem bestimmten Punkt etwas erreichen können. Meine Frau hat beispielsweise mehrere Anfragen an das Innenministeriums geschickt und gefragt, warum am 11. März nicht dem OEZ gedacht wird. Und sie hat keine Antwort erhalten. Deswegen brauchen wir aber diese öffentliche Rückendeckung, solche Unterstützung hilft uns sehr. 

Das fängt am Jahrestag an. Wir müssen einfach der Stadt München – ich sag jetzt nicht Deutschland, weil wir sind mit München noch nicht fertig – zeigen, dass sie es nicht nur mit der Familie Leyla zu tun haben, sondern mit halb München. Das würde ganz anders ausschauen. Ich sag nochmal, betone es immer wieder: Wenn die Aufmerksamkeit größer wird, kommt mein Sohn zurück? Nein. Wird unser Schmerz weniger? Auch nein. Aber jeder soll wissen, was in München passiert ist. Jeder soll es wissen, dass hier, in der Bundesrepublik Deutschland, unsere Leben doch nicht so sicher sind, wie sie sich das vorgestellt haben. Das ist wichtig. Wenn die Aufmerksamkeit groß ist, dann werden diese Behörden auch solche Sachen ernster wahrnehmen, und vielleicht endlich ihre Arbeit machen, solchen Terror zu verhindern.

 

 

Danke für das Gespräch, liebe Familie Leyla!

 

Hasan und Sibel Leyla sind die Eltern von Can Leyla, der beim rechtsterroristischen Attentat am OEZ in München 2016 ums Leben gekommen ist.