"Jugendliche werden oft vergessen" Im Gespräch mit Alexander Rönisch von WIR SIND HIER!

Zwei Jahren Dauerkrise treffen Jugendliche und junge Erwachsene besonders, denn sie befinden sich meist in besonders kritischen Lebensphasen, beispielsweise der Berufsorientierung. Politisch blieb das Interesse an den Problemen und Realitäten Jugendlicher trotzdem gering. Wir haben mit Alexander "Ali" Rönisch, Sozialarbeiter und Projektleiter, darüber gesprochen, woran das lag und wie junge Erwachsene die letzten Jahre wahrgenommen haben.

Du arbeitest als Referent bei WIR SIND HIER, einem Bildungsprogramm gegen Antiziganismus von RomaTrial e.V. Welche Rolle spielt Bildungsarbeit im Kampf gegen Antiziganismus?
 
Erstmal geht es darum, welche Bildungsarbeit geleistet wird. Ich komme aus der Sozialen Arbeit, das heißt, mein Ziel ist es, gerade diejenigen in der direkten Ansprache zu erreichen die sonst nicht so erreicht werden. Und das machen wir nicht mit einem negativen, defizitorientierten Blick wie es oft medial vorkommt, sondern mal anders, aktivierend. Dazu sind wir in mehreren Bundesländern aktiv, in Berlin, Sachsen und Brandenburg, und setzen auf die Jugendlichen selbst. Denn die kennen ihre Communities am besten. Und das wollen wir aktivieren, indem wir Peer-Trainer*innen ausbilden, also Roma* ausbilden die selbst Workshops für andere Jugendliche geben um Awareness für Antiziganismus zu schaffen. Das gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen, die Gelegenheit, sich untereinander zu vernetzen in der Awareness-Arbeit und eine spannende Zeit zu verbringen.
 
Du sprichst von Menschen, sie sonst nicht erreicht werden. Was gibt es denn so für Hürden in der Bildungsarbeit, die das verhindern, und wie baut ihr Hürden ab?
  
Akademisierte Antidiskriminierungsarbeit zum Beispiel erreicht nur ganz bestimmte Zielgruppen, oft mit hohen Bildungsabschlüssen, und schließt viele andere aus. Da wollen wir die Themen runterbrechen, damit es inklusiver ist. Und für viele ist es gar nicht greifbar, was ich als Sozialarbeiter eigentlich mache. Da ist das Wissen über die Angebote, die in der klassischen Sozialarbeit gemacht werden können, gar nicht da – warum sollten Erwachsene also ihren Kindern einfach so erlauben, mit mir eine Freizeitaktion mitzumachen? Die Eltern machen sich einfach Sorgen um ihre Kinder, viele haben schlechte Erfahrungen gemacht, Rassismuserfahrungen, das erschwert unsere Arbeit. Die Jugendlichen können da unbeschwerter mit diesen Sorgen umgehen. Deswegen ist es auch so wichtig sie in eine aktive Rolle als Trainer*innen zu bringen. Das Selbstwertgefühl, das Empowerment das damit einher geht ist wichtig, damit sie ihre Persönlichkeit entfalten können und dazu gehören können. Jeder Mensch hat schließlich wertvolle Ressourcen, die sie aktivieren können. Und damit es dazu kommt, brauchst du erstmal eine gute Beziehung auch zu den Jugendlichen. Die machen ja auch selbst schlechte Erfahrungen: Im Supermarkt werden die verdächtigt zu klauen, oder in der Schule abgestempelt als faul, kämpfen dann noch oft mit Armut oder schlechten Wohnverhältnissen. Und indem wir dagegen ankämpfen, ihnen das Selbstvertrauen zurückgeben, können sie das dann in ihre Communities tragen.
 
Ihr habt mit eurer Arbeit 2020 angefangen, das heißt ihr habt bisher nur unter Krisenbedingungen gearbeitet: Mit Covid-19 gab es mehrfach Lockdowns, und die Infektionsgefahr bleibt weiter hoch. Wie hat sich das auf eure Arbeit ausgewirkt?

  
Da gibt es drastische gesundheitliche und soziale Folgen. Während der Pandemie wurden Menschen psychisch krank, nahmen zu weil sie sich weniger bewegen konnten, da gab es ganz viel Vereinsamung und Zukunftsängste. Die Menschen haben sich halt zurückgezogen, und der öffentliche Raum war noch mehr bedroht als eh schon. Und gerade prekär lebende Menschen hatten jetzt nicht den Wohnraum, um privat auszugleichen was öffentlich wegfiel. Aber das ist auch ein Trend über die Pandemie hinaus der Sorge macht. Der öffentliche Raum wird schon lange kapitalisiert, wenn Shopping Malls gebaut werden statt Spielplätzen: Jugendliche sind da willkommen, solange sie konsumieren, was sich viele nicht leisten können. Vor allem fehlen da aber Freiräume, Räume ohne Kontrolle wo einfach niemand ist, keine Polizei, keine Erwachsenen. Und gerade Jugendliche die in kleinen Wohnungen mit großen Familien wohnen sind auf solche Räume angewiesen, um sich auch mal zurückzuziehen. Das ist eine Belastung, die gerade arme Menschen trifft. Auch digitale Räume können das nicht ersetzen – wer kein eigenes Gerät, keinen Rechner hat, kann sich auch schlecht Online vernetzen und braucht diese Offline-Räume.
  
Und in der Situation kam dann noch der Krieg in der Ukraine, vor dem auch viele Roma* geflohen sind.

 
Genau, und diese haben ganz andere Probleme – sie erfahren zum Beispiel aus erster Hand die Ungleichbehandlung von Geflüchteten. Wie zB die deutsche Bahn Roma nicht reingelassen hat im Bahnhof in Mannheim, weil die haben oft auch keine Papiere und können sich nicht nachweisen. Generell sprechen wir über Roma* und Sinti* oft verallgemeinernd, dabei sind diese sehr divers und haben unterschiedliche Probleme und Bedarfe. Wer lange hier lebt, hat vielleicht eher ökonomische Sorgen und fürchtet Preiserhöhungen, wer aus Serbien kommt ist dagegen sehr häufig von Abschiebung betroffen - das sieht bei rumänischen Roma* schon anders aus. Und die ukrainischen Roma* zeigen diese Komplexität nur nochmal auf. Diese Ungleichbehandlung ist auf ganz vielen Ebenen spürbar. Ein Beispiel aus der Gesundheitspolitik: Wer aus der Ukraine floh, hat ganz andere Ansprüche als jemand der aus Afghanistan oder Syrien floh. Wer dann beispielsweise als Heroinabhängige*r versorgt wird, bekommt als Ukrainer*in ganz einfach Methadon, jemand aus Afghanistan bekommt das nicht.

Viele dieser Probleme gelten aber auch Gruppenübergreifend, Preissteigerungen betreffen ja Menschen unabhängig von Alter und Herkunft. Und der Lockdown galt ja auch erstmal für alle. Inwiefern haben die Krisen Jugendliche anders beeinflusst als Erwachsene?

Jugendliche befanden sich aber häufig in einer anderen Lebensphase während des Lockdowns. Wer mit beiden Beinen fest im Leben steht, übersteht solche Ausnahmesituationen anders. Für junge Erwachsene stand aber häufig die Berufsorientierung an, also Jahre mit sehr wichtigen Stellschrauben für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und berufliche Orientierung– und diese fanden sehr eingeschränkt statt unter Pandemiebedingungen, wurden häufig unterbrochen. Das ist eine besondere Belastung. Und dann kommt dazu, dass Jugendliche häufiger Opfer von Gewalt werden als Erwachsene, im Alltag beispielsweise. Ich mache mir aber auch Sorgen was beispielsweise häusliche Gewalt angeht, weil Jugendliche den Eltern in der Pandemie viel stärker ausgeliefert waren als sonst und wichtige Meldestrukturen für solche Gewalt wegfielen. Wenn Betreuer*innen die Jugendliche über Monate nicht sehen, oder nur kurz digital sehen, wie sollen sie dann häusliche Gewalt bemerken? Und dann stellt sich auch immer die Frage, wer überhaupt in Krisen Hilfsangebote bekommt. Diese sind oft nicht mehrsprachig, wen erreichen die? Ich denke auch, dass Menschen die nicht lesen und schreiben können da oft vergessen werden. Weil diese werden oft beworben mit Broschüren oder im Internet, aber man erreicht diese Menschen letztlich nur mit direktem Kontakt, und genau der fiel in der Pandemie weg. Das müssen wir also erstmal aufholen.

Wenn wir schon von häuslicher Gewalt sprechen, müssen wir auch von Geschlecht sprechen. Immerhin hab es einige Diskussionen zur Zunahme von häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Pandemie, oder auch zur „Retraditionalisierung“ von Frauenrollen: Dass diese zB besonders häufig häusliche Aufgaben in der Pandemie übernommen haben. Welche Rolle spielen solche Genderdynamiken für eure Arbeit?
 
Die Lebensrealitäten von Männern und Frauen gehen oft auseinander, da gibt es zum Teil moralische Schranken zwischen den Geschlechtern. Da gibt’s zum Beispiel ein patriarchales Misstrauen gegenüber Frauen dass sie sich um sich selbst kümmern können in der Öffentlichkeit und eine Erwartungshaltung dass sie sich stattdessen im privaten Bereich bewegen. Das macht es schwieriger, in der Bildungs- und Sozialarbeit auch junge Frauen zu erreichen. Das merke ich zum Beispiel in der Bewegungsfreiheit, wenn es zum Beispiel eine Veranstaltung gibt, wer übernachten darf oder bis wann draußen sein darf. Männer haben auch öfter einen Führerschein und Frauen sind öfter auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Und Frauen sind auch häufiger gefährlichen Situationen durch übergriffige Männer ausgesetzt als anders herum - das verschärft diese Ungleichheiten.

Zum Schluss nochmal ein Ausblick: Was erhoffst du dir von der Politik, um die angesprochenen Probleme effektiver bekämpfen zu können?

Also vor allem braucht es gut finanzierte, also ausfinanzierte Projekte, die nachhaltig sind und über einen längeren Zeitraum wirken. Die letzten Jahre wurde das nochmal besonders deutlich, aber Jugendliche werden oft vergessen von der Politik und der Öffentlichkeit. Und das liegt auch daran, dass die Arbeit mit Jugendlichen präventiv ist – sie soll Dinge verhindern, dass macht es schwer ihren Effekt zu messen, vor allem kurzfristig. Wir arbeiten uns an Dunkelziffern ab, mit der können wir aber nur schwer argumentieren. Und das ist besonders dramatisch, weil die Arbeit zu Sinti* und Roma* oft mit Projektmitteln erfolgt, da brauchst du solche Argumente und Rechtfertigung um gefördert zu werden. Du hast da halt einen Projektzeitraum und immer die Frage, ob es weitergeht – und ob die einmal mühsam aufgebauten Netzwerke und Zugänge erhalten bleiben. Und junge Menschen sind in dem Prozess einfach benachteiligt, weil sich für sie zu wenig interessiert wird. Das muss sich dringend ändern.

Danke für das Gespräch, lieber Ali!

 

Alexander Rönisch, genannt Ali, ist Sozialarbeiter und arbeitet seit 2022 im Bildungsprojekt gegen Antiziganismus WIR SIND HIER! bei RomaTrial e.V.. Als Straßensozialarbeiter bei Gangway e.V. hat er seit 2014 schwerpunktmäßig mit jugendlichen Roma* aus Rumänien und deren Familien gearbeitet. Seine Schwerpunkte sind: akzeptierende Jugendsozialarbeit und inklusive Gemeinwesenarbeit.